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02051 Artikel 51 MDR: Klassifizierung von Produkten

Die MDR hält an dem System fest, dass Medizinprodukte in Risikoklassen eingeteilt werden. Die Risikoklassen sind in der Folge ausschlaggebend für die weiteren Anforderungen, die die Verordnung für die Verkehrsfähigkeit der Produkte stellt.
Arbeitshilfen:
von:
Artikel 51 MDR
(1) Die Produkte werden unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft. Die Klassifizierung erfolgt gemäß Anhang VIII.
(2) Jede Meinungsverschiedenheit zwischen einem Hersteller und der betreffenden Benannten Stelle, die sich aus der Anwendung des Anhangs VIII ergibt, wird zwecks Entscheidung an die zuständige Behörde des Mitgliedstaats verwiesen, in dem der Hersteller seine eingetragene Niederlassung hat. Verfügt der Hersteller nicht über eine eingetragene Niederlassung in der Union und hat er noch keinen Bevollmächtigten ernannt, wird die Angelegenheit an die zuständige Behörde des Mitgliedstaats verwiesen, in dem der in Anhang IX Abschnitt 2.2 Absatz 2 Buchstabe b letzter Spiegelstrich genannte Bevollmächtigte seine eingetragene Niederlassung hat. Hat die betreffende Benannte Stelle ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Hersteller, so trifft die zuständige Behörde ihre Entscheidung nach Anhörung der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, der die Benannte Stelle benannt hat.
Die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dem der Hersteller seine eingetragene Niederlassung hat, setzt die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte und die Kommission über ihre Entscheidung in Kenntnis. Die Entscheidung wird auf Ersuchen zur Verfügung gestellt.
(3) Die Kommission entscheidet auf Ersuchen eines Mitgliedstaats nach Anhörung der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte mittels Durchführungsrechtsakten über Folgendes:
a)
die Anwendung des Anhangs VIII auf ein bestimmtes Produkt, eine Produktkategorie oder eine Produktgruppe, um so die Klassifizierung dieser Produkte zu bestimmen;
b)
die Klassifizierung – abweichend von Anhang VIII – in eine andere Klasse eines Produkts, einer Produktkategorie oder einer Produktgruppe aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gemäß neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder auf der Grundlage von Informationen, die im Laufe der Vigilanz- und Marktüberwachungstätigkeiten verfügbar werden.
(4) Die Kommission kann auch aus eigener Initiative und nach Anhörung der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte mittels Durchführungsrechtsakten über die Fragen nach Absatz 3 Buchstaben a und b entscheiden.
(5) Um die einheitliche Anwendung des Anhangs VIII sicherzustellen, kann die Kommission unter Berücksichtigung der betreffenden wissenschaftlichen Gutachten der einschlägigen wissenschaftlichen Ausschüsse Durchführungsrechtsakte erlassen, soweit dies für die Lösung von Problemen im Zusammenhang mit Unterschieden bei der Auslegung und der praktischen Anwendung erforderlich ist.
(6) Die in den Absätzen 3, 4 und 5 des vorliegenden Artikels genannten Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 114 Absatz 3 genannten Prüfverfahren erlassen.
Konsolidierte MDR-Version vom 24.04.2020

1 Einleitung und Hintergrund zu Artikel 51 MDR

Bereits in den Medizinprodukte-Richtlinien 93/42/EWG und 90/385/EWG war die Risikoklassifizierung ein entscheidender Schritt im Rahmen der Erlangung der Verkehrsfähigkeit. Denn an die Risikoklasse eines Produkts sind die weiteren dann zum Teil unterschiedlichen Anforderungen geknüpft. Das dahinterstehende logische Prinzip: je größer die potenziellen Risiken, die mit einem Produkt einhergehen, umso höher die Risikoklasse und umso umfangreicher und fordernder der zu erfüllende Aufgabenkatalog bis zur Verkehrsfähigkeit, aber auch danach in der Post-Market-Phase.
Rationale der Risikoklassifizierung
Notwendig wird eine solche Risikoklassifizierung, weil der „Produkttyp Medizinprodukt” keine homogene Gruppe von Produkten darstellt. Vielmehr erfüllen sehr unterschiedliche Produkte die Definition eines Medizinprodukts und fallen damit unter das gleiche Regelwerk, nämlich die MDR. So sind etwa Gehhilfen, Rollstühle, Kompressionsstrümpfe, Hörgeräte, Kontaktlinsen, Nasensprays auf Meerwasserbasis, Beatmungsgeräte, Dialysegeräte, resorbierbares Nahtmaterial, Herzschrittmacher, Implantate zum Gelenkersatz, Wirbelsäulenimplantate, komplexe OP-Ausstattung, Röntgen-/MRT-Geräte oder Arzneistoffe abgebende Stents als Medizinprodukte im Verkehr. All diesen Produkten ohne Unterschied den gleichen Anforderungskatalog aufzuerlegen, ist nicht notwendig, nicht sinnvoll und darüber hinaus unwirtschaftlich.
Bereits unter Richtlinienrecht wurden Medizinprodukte daher in vier Risikoklassen unterteilt: I, IIa, IIb und III, vom geringsten (Klasse I) aufsteigend zum höchsten Risikopotenzial (Klasse III), das mit einem Produkt einhergeht. Dieses System hat der Europäische Gesetzgeber beibehalten und in Erwägungsgrund 58 ausgeführt:
„Vor allem für die Zwecke der Konformitätsbewertungsverfahren ist es erforderlich, die Unterteilung der Produkte in vier Klasse beizubehalten, die auch der internationalen Praxis entspricht. Die Bestimmungen über die Einstufung, die auf der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers beruhen, sollten die mit der technischen Auslegung und der Herstellung potenziell verbundenen Risiken berücksichtigen. Um zu gewährleisten, dass ein der Richtlinie 90/385/EWG gleichwertiges Sicherheitsniveau beibehalten wird, sollten aktive implantierbare Produkte in die höchste Risikoklasse eingestuft werden.”
Artikel 51 MDR ersetzt damit die Vorschriften der Artikel 9 und 13 der Richtlinie 93/42/EWG und nimmt die Vorgaben der Richtlinie 90/385/EWG auf. Letztere sah für die aktiven implantierbaren Medizinprodukte keine eigene Risikoklasse vor und behandelte alle Produkte, die dieser Richtlinie unterfielen, gleich; folglich sah sie keine eigene Risikoklassifizierung vor. Inhaltlich entsprachen die Vorgaben denen, die für die höchste Risikoklasse vorgesehen waren. In der Konsequenz wurden mit der MDR alle Produkte, die ehemals der Richtlinie 90/385/EWG unterfielen, der Risikoklasse III zugeordnet.

2 Inhaltliche Kommentierung

2.1 Klassifizierung von Produkten

2.1.1 Absatz 1: Zweckbestimmung

Absatz 1 bestimmt, dass Produkte unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft werden. Die Klassifizierung erfolgt auf der Basis der Klassifizierungsregeln von Anhang VIII MDR. Mit dieser Vorschrift wird Artikel 9 der Richtlinie 93/42/EWG inhaltlich fortgesetzt. Aufgenommen wird der Zusatz „unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken”, was noch einmal explizit verdeutlicht, dass die Zweckbestimmung einen entscheidenden Einfluss auf die Risikoklasse eines Produkts haben kann. Auch in den Durchführungsvorschriften zu den Klassifizierungsregeln (Anhang VIII, Kapitel II MDR) wird unter Ziffer 3.1 bestimmt, dass der Ausgangspunkt der Klassifizierung die Zweckbestimmung ist:
„Die Anwendung der Klassifizierungsregeln richtet sich nach der Zweckbestimmung der Produkte.”
Die „Zweckbestimmung” wird in Artikel 2 Nummer 12 MDR definiert als
„Verwendung, für die ein Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers auf der Kennzeichnung, in der Gebrauchsanweisung oder dem Werbe- oder Verkaufsmaterial bzw. den Werbe- oder Verkaufsangaben und seinen Angaben bei der klinischen Bewertung bestimmt ist.”
Subjektives Element
Die Zweckbestimmung wird entsprechend den Angaben des Herstellers bestimmt. Dieser hat gemäß Anhang I Abschnitt 1 MDR zu prüfen, zu bewerten und zu belegen, dass das Produkt die von ihm vorgesehene Leistung erzielt und so ausgelegt und hergestellt wurde, dass es sich unter normalen Verwendungsbedingungen für seine Zweckbestimmung eignet. Dies zeigt zweierlei auf: Zum einen hat die Zweckbestimmung ein subjektives Element, das es dem Hersteller ermöglicht, auf die Klassifizierung und Kategorisierung Einfluss zu nehmen. Zum anderen hat die Möglichkeit des Herstellers, auf diese Faktoren Einfluss zu nehmen, grundsätzlich dort Grenzen, wo die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Produkts oder die tatsächlich zu erwartende Anwendungsart nicht mehr mit den Auslobungen des Herstellers vereinbar sind [1].
Relevanz weiterer Kommunikation des Herstellers
Zu beachten ist auch, dass der Hersteller seine Klassifizierung nicht nur in der Kennzeichnung (Artikel 2 Nr. 13 MDR) und der Gebrauchsanweisung (Artikel 2 Nr. 14 MDR) darstellen muss, sondern diesbezüglich auch im Rahmen der weiter von ihm verbreiteten Dokumente, wie etwa Werbe- und Verkaufsmaterialien, konsistent bleiben muss. Unklarheiten bei einer dieser drei Komponenten gehen im Zweifel zulasten des Herstellers [2].
Andererseits kommt es eben nur auf die vom Hersteller dem Produkt zugewiesene Zweckbestimmung für die Klassifizierung des Produkts an. Die Klasse anderer ähnlicher Produkte ist dabei irrelevant. So können beispielsweise zwei Nahtmaterialien, die die gleiche Zusammensetzung aufweisen, durchaus unterschiedliche Zweckbestimmungen und damit eine andere Risikoklasse haben (MDCG 2021-24 S. 14, s. Arbeitshilfe).[ MDCG_2021-24.pdf]
Zugleich ist aber festzuhalten, dass es für die Einstufung des Produkts auf die bestimmungsgemäße und nicht die zufällige Verwendung des Produkts ankommt. So ist etwa ein Nahtmaterialorganisator, der dazu bestimmt ist, die bei Operationen am offenen Herzen verwendeten Nahtfäden in der richtigen Reihenfolge zu halten, nicht als invasives Produkt anzusehen, wenn er dazu bestimmt ist, außerhalb des Patienten verwendet zu werden. Auch wenn ein Angehöriger der Gesundheitsberufe oder eine andere Person das Produkt in einer vom Hersteller nicht vorgesehenen Weise verwendet, ändert das nichts an der Klasse des Produkts für die Zwecke der Konformitätsbewertung. Ändert sich jedoch die normale klinische Verwendung des Produkts im Laufe der Zeit mit der sich entwickelnden klinischen Praxis, sodass sich faktisch die Zweckbestimmung und die Klassifizierung des Produkts ändern, sollte und muss das vom Hersteller unter Umständen berücksichtigt und die Konformität des Produkts für die neue Zweckbestimmung bewertet werden (MDCG 2021-24 S. 14, s. Arbeitshilfe).

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